Komplexes Zeug

Anmerkung: Dieser Text ist von 2013

Das habe ich mich neulich gefragt. Damit meine ich jetzt nicht nur 7/8-Takte im Wechsel mit 3/2 und 5/4, sondern generell „komplexes Zeug“ – ohne das jetzt näher spezifizieren zu wollen. Als ich noch „klein“ war, gab es sehr unterschiedliche Geschmäcker: Oscar-Peterson-Imitatoren, Fusion-Fans, freie Improvisatoren, die „gotta-know-rhythm-changes-in-all-keys“-Fraktion und Hintergrundmusiker am Digitalpiano – also ein bunter Haufen. Die meisten stellten sich irgendwann mehr oder weniger unangenehm die Frage, wo sie hingehören. Besonders knifflig war die Auswahl des Repertoires für die erste eigene Band: ein Bossa, dann ein eigenes Stück mit geraden Achteln, ein Standard als Swing, eine Blakey-Jazz-Messengers-Nummer. Alles war irgendwie kategorisiert, mit Vor- und Nachteilen – ein wenig wie in der Mode, an die ich mich aus meiner Schulzeit erinnere, als man sich zwischen Esprit-Sweatshirts, Elho-Daunenjacken oder Opas zu großem Sakko entscheiden musste. Das Schwierige war, einer Gruppe angehören zu müssen – das Schöne, aus vielen verschiedenen Richtungen wählen zu können, die alle irgendwie widersprüchlich wirkten.

2013 erlebe ich die junge Szene natürlich etwas von außen, weil ich altersbedingt nicht mehr dazugehöre. Dank Internet bekomme ich aber recht gut mit, was gespielt wird, was neue Bands machen und was an der Kölner Hochschule akzeptiert wird. Ab und zu lausche ich auch Gesprächen junger Musiker – meist vor der Hochschule, getarnt mit einem Becher Kaffee.

Über die Zeit habe ich einen Trend festgestellt, der sich wie ein roter Faden durch die Vorlieben zieht: Die Jungen stehen auf komplexes Zeug. Technisch herausragendes Können war immer schon interessant – darum geht es mir nicht. Ich meine eher das musikalische Material an sich: die Kompositionen, die Herangehensweise, die Art des Musizierens.

Wenn mich jemand fragen würde, ob John Coltrane komplexes Zeug sei, würde ich wahrscheinlich verneinen – obwohl seine Musik natürlich hochgradig komplex ist. Für mich liegt der Geist seiner Musik nicht in der Komplexität der Lines, sondern in der Farbe, Energie, Melodieführung und im Sound. Komplex ist es natürlich – das merkt man aber erst, wenn man es versucht nachzuspielen.

Wenn ich die jungen Musiker beobachte, die ich in den letzten Jahren kennengelernt habe, dann ist komplexes Zeug oft das verbindende Element: Krumme Taktarten, harmonieillusorische Zusammenhänge, suitenhafte Kompositionen, vielleicht sogar Vierteltonmusik. Ich will hier nicht alle Schattierungen aufzählen, aber eines haben sie gemeinsam: Sie sind komplex.

Warum? Ich habe darüber oft nachgedacht, aber der richtige Klick ist bei mir noch nicht passiert. Eine inhaltliche oder politische Auflehnung gegen dumpfe Stampfmusik scheidet aus – die meisten sind viel zu einverstanden mit allem, finden alles irgendwie okay. Eine Gegenbewegung gegen eine vermeintlich fehlende Komplexität macht auch wenig Sinn. Also was bleibt?

Mir fiel auf: Die meisten jungen Musiker und Musikhörer hören heute Musik über YouTube, Spotify und ähnliche Plattformen – aber hören sie wirklich zu? Wirklich länger als zwei Minuten? Ein ganzes Album? Immer wieder? Selten. Sie spielen an, hören kurz, wechseln dann weiter. Nachdem sie das vermeintliche Kernelement einer Aufnahme erfasst haben, geht es weiter – alles in weniger als zwei Minuten.

In jeder Stilrichtung zeigt ein Feuerwerk von komplexem Zeug sofort, wo’s langgeht: Zehn Sekunden 5/4 mit 7/8-Überlagerung auf analogen Synthesizern signalisieren Hier sind Profis am Werk, hier passiert etwas. Ist das nicht der Fall, braucht es länger – und Geduld haben wir heute nicht mehr.

Das ist eine gewagte Theorie, aber die beste, die ich bislang gefunden habe.

Aber was stört mich daran? Die Vorliebe für komplexes Zeug beschert uns viele technisch hervorragend ausgebildete Musiker, die schon früh ein erstaunliches Niveau erreichen. Als Komponist und Arrangeur freut mich das sehr – das satz-spielerische Niveau in Big Bands ist heute viel höher als noch vor 25 Jahren.

Was mich aber beunruhigt, ist die Tendenz (die sicher nicht unumstritten ist), technische Möglichkeiten vom musikalischen Inhalt zu entkoppeln. Komplexes Zeug wird häufig zum Selbstzweck, während es früher hauptsächlich Mittel war, um musikalischen Inhalt auszudrücken – vielleicht eine Fehlinterpretation von der Weg ist das Ziel?

Ein weiterer Zusammenhang: Die Jagd nach inhaltsarmem komplexem Zeug führt zu einer unnötigen Abkehr vieler junger Jazzmusiker vom Jazz. Parallel zum komplexen Zeug bildet sich eine musikalische Welt der Simplizität, die ebenso leer ist. Oft geht es dort nicht um die Umsetzung einer künstlerischen Idee, sondern um die Suche nach einer einfachen Hülle: Hauptsache down to earth, cool oder chilled – egal was drinsteckt. Ein Beispiel sind diverse Jazz-Topacts, die nüchtern betrachtet Popmusik mit akustischer Instrumentierung machen. Und ja, trotz Grenzbereiche gibt es meiner Meinung nach einen Unterschied zwischen Pop und Jazz.

Die Jazzwelt spaltet sich meiner Theorie nach also langsam in zwei Versionen derselben Hülle, die selbst zum Inhalt wird.

Dabei ist die spannendste Musik diejenige, die sowohl komplexe als auch einfache Elemente vereint: Harmonie und Dissonanz, laut und leise, schnell und langsam. Widersprüche und Gegensätze, die erst das Musizieren abwechslungsreich machen, im Spannungsfeld zwischen Erfüllung und Enttäuschung musikalischer Erwartungen – unabhängig vom Stil. Musik lebt nur, wenn sie spannend ist. Ich wünschte mir, dass mehr junge Musiker diese Musik suchen und sich Zeit nehmen, zuerst das Ziel zu definieren, dann das passende Mittel.

Zurück zum Beispiel der Mode an Schulen: Ich würde gerne eine Studie zur Bekleidungskultur in deutschen Gymnasien sehen – ich bin mir sicher, dass sich dort kaum noch unterschiedliche Strömungen finden lassen.