Quo vadis, Big Band?

Es war wohl im Herbst 1990, als ich mich in den Big Band Sound verliebte. Damals, mit knapp 18, saß ich als Pianist in den Proben des LandesJazzOrchesters Baden-Württemberg und genoss einfach das Bad im Sound – und zwar im Sound eines Jugendorchesters! Und ich liebe es immer noch.

Über die Jahre habe ich mich durch viele ups and downs gekämpft, gelernt, mit dem hohen psychologischen Druck als Bandleader umzugehen, gelernt, die unverblümte (und meist berechtigte) Kritik der Orchestermusiker auszuhalten und positiv umzulenken. Ich habe verinnerlicht, dass die Musiker mir ihr Talent leihen, meine Musik zum Leben erwecken – und dafür bin ich immer wieder dankbar, wenn ich vor einer Band stehe oder ein neues Stück als PDF um die Welt schicke.

Ich habe das Handwerk gelernt und weiß, was ich wie für wen schreiben muss, damit es so klingt, wie ich es möchte. Ich schreibe schnell und stilsicher. Es gibt kaum noch Überraschungen, wenn die Proben beginnen. Änderungen an den Stücken sind selten nötig. Die Noten sind gut spielbar (auch wenn ich hier immer noch gerne dazulerne), und meine Vorstellung der Musik deckt sich mit dem Ergebnis. Mit anderen Worten: Ich bin glücklich darüber, dass ich nach vielen harten Lektionen und Mühen hier angekommen bin. Der Klangkörper Big Band ist für mich ein verlässliches Werkzeug, meine Musik zum Leben zu erwecken.

Was tut man nun, wenn das Handwerk ein gewisses Niveau erreicht hat? Man sollte sich wieder dem widmen, was schon vor dem Erklimmen des Basislagers des Fähigkeits-Berges am wichtigsten war: der Musik! Aber was ist das eigentlich? Denn Fähigkeiten sind nur Werkzeuge, die beim Materialisieren von Kreativität helfen.

Musik bedeutet für mich Ästhetik, Überraschung, Kurzweil, Drama. Musik, die mich begeistert, enthält genau diese Zutaten. Wenn ich heute Musik höre – gleich welcher Stilistik –, sind es nicht die cleveren Taktwechsel, interessanten Voicings oder Instrumentierungen, die mich berühren. Es sind die Dinge, die sich nicht so leicht fassen lassen.

Wie in jeder Kunstform sollte das Ziel sein, etwas zu schaffen, das mehr ist als die Summe seiner Teile – etwas, das Gewicht und Bestand hat. Ich fürchte, die Mühen beim Erlernen und Verstehen einer Kunstform können dazu führen, dass man sich im Eifer des Gefechts verliert. Unmerklich verlagert sich der Fokus von der Musik auf die Technik der Musik, ohne dass man es bemerkt. Vor allem, wenn man sich durch die akademischen Mühlen geackert hat, kann das den Blick auf Ästhetik und Spannungsverhältnisse trüben – obwohl dies meiner Ansicht nach gerade die Beschreibung von guter Musik ausmacht.

Inzwischen besteht ein Gutteil meines Alltags darin, dies an die jüngere Generation weiterzugeben – sei es als Klavierdozent oder im Bereich Komposition. Gerade durch die regelmäßige Begegnung mit jungen Instrumentalist:innen und Komponist:innen wird mir immer klarer, was allzu oft vergessen wird: die ständige Rückbesinnung auf den Kern der Musik.

Der Ansatz „erst Handwerk, dann Kreativität“ ist ebenso falsch wie der Ansatz „Kreativität geht vor, man braucht kein Handwerk“. Doch ein großer Teil der Werke junger Komponist:innen klingt genau so, als folgten sie einer dieser beiden polaren Positionen. Sicher – so wie auch ich Jahrzehnte gebraucht habe, um das zu verstehen –, kann man den Jungen keinen Vorwurf machen; den Alten jedoch schon!

Es sollte unsere Aufgabe sein, der nachwachsenden Generation von Big-Band-Komponist:innen viele Fragen zu stellen:

– Weißt du, was du mit deinem Stück erreichen willst?
– Welche Geschichte möchtest du erzählen?
– Sind es die Worte, die dich interessieren, oder die Geschichte?
– Wann und warum möchtest du überraschen?
– Schreibst du ein Gedicht oder nur eine Ansammlung schön klingender Worte?
– Was ist wichtiger: das Konstrukt oder der Inhalt?

Dies sind nur einige Fragen, die meiner Ansicht nach viel zu kurz kommen. Das Ergebnis: Viele junge Komponist:innen greifen tief in den Farbtopf, wissen jedoch nicht, ob ihr Bild ein Porträt oder eine Landschaft ergeben soll. Ich höre viele interessante Worte, teilweise Sätze, aber wenig Geschichten – vor allem keine, die persönlich sind oder sich von anderen Erzählungen unterscheiden. Ich höre Musik, die so spannungsüberladen ist, dass sie dadurch langweilig und gleichförmig wirkt. Ja, auch ein 10/8-Takt und Vierteltöne können dröge sein.

Andererseits begegne ich auch Geschichten, in denen Wortbedeutungen unklar sind, die Grammatik fehlerhaft ist und die Satzzeichen nicht stimmen – allerdings ist das heute seltener als früher.

Man braucht beides: Werkzeuge, mit denen man bauen kann, und einen Plan, was man überhaupt bauen möchte und warum. Nur dann hat man am Ende vielleicht das Glück, Bedeutsames zu erschaffen. Es wäre ein Fehler, sich gerade in jungen Jahren auf das eine oder das andere zu konzentrieren. Man sollte den Blick immer auf den Boden und in den Himmel richten.

Gerade jetzt, da ich annahm, nach dem langjährigen Kampf mit dem Erwerb von Fähigkeiten etwas ausatmen zu können, erkenne ich, dass ein neuer Berg am Horizont erscheint: die Rückbesinnung auf das Warum, auf die Schönheit, die Hässlichkeit, Spannung und Entspannung der Musik – all das, was ich eigentlich immer schon geliebt habe. Eine neue, alte Aufgabe, die es zu meistern lohnt.

Schwarz-Weiß-Foto eines Brückenpylons mit Kabeln über einer Straße, bei dunklen Wolken am Himmel. In der Auvergne, Frankreich.